Unser erstes Jahresthema lautet "Re-interpreting Freedom". In loser Folge sprechen wir mit Mitgliedern unseres Beirats, künftigen Fellows und Freund:innen des Collegiums über ihren Freiheitsbegriff. Den Anfang macht Professor em. Dr. Günter Müller-Stewens, der Präsident des Beirats.
Wann fühlen Sie sich frei?
Sich frei fühlen, heisst für mich, möglichst weitgehend frei zu sein von Zwängen und Normen, die ich als gesellschaftlich nicht erforderlich und einschränkend empfinde, die mich – zumindest aus meiner Sicht – unnötig wertvoller Handlungsoptionen berauben. Weiter fühle ich mich frei, wenn ich überwiegend den Eindruck habe, dass meine persönliche Freiheit durch meine Umgebung respektiert wird und ich weitgehend selbstbestimmt entscheiden kann.
Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das Ihnen die Bedeutung von Freiheit bewusst machte?
In meiner Studienzeit durfte ich als Reiseleiter arbeiten. Einige dieser Reisen führten auch in den ehemaligen Ostblock. Dort war ich jeden Tag mit Einschränkungen meiner persönlichen Freiheit konfrontiert: Bewegungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit etc. So wurde mir ein Privileg in meiner Heimat spürbar bewusst, das ich zuvor relativ unreflektiert als gegeben hingenommen habe. Mit Bewohnern dieser Länder hatte ich auch viele zwischenmenschlich wertvolle Begegnungen und konnte erleben, wie schmerzlich und schwierig es für diese oft ist, sich mit diesen Einschränkungen irgendwie zu arrangieren.
Warum müssen wir Freiheit neu denken? Müssen wir überhaupt?
Im Kern müssen wir sie nicht neu denken. Das, was Freiheit ausmacht, ist heute im Kern das Gleiche wie vor Jahrtausenden. Wir können hier auf grossen Schultern aufbauen: Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, John Stuart Mill, Friedrich August von Hayek – um nur einige zu nennen. Doch die Interpretation dieses Kerns muss angesichts gesellschaftlicher Veränderungen immer wieder aufs Neue erfolgen und gemeinschaftlich ausgedeutet werden. Auch sind die verschiedenen Freiheiten mancherorts bedroht, und es gilt sich zu deren Verteidigung argumentativ, im Kontext unserer Gegenwart neu aufzurüsten.
Für Wissenschaftler:innen: Was sind die blinden Flecken Ihrer Disziplin, wenn es um Freiheit geht?
Über die letzten Jahre nahm die Macht, die von den grossen wissenschaftlichen Journals ausgeht, enorm zu. Es wurde mehr und mehr normiert, wie ein wissenschaftlicher Artikel in all seinen Facetten auszusehen hat. Auch wenn dies primär die Form betrifft, so hat diese doch auch indirekt Einfluss auf die Inhalte. Unterwirft man sich nicht dieser Form, so ist es immer schwieriger im heutigen Wissenschaftssystem Karriere zu machen. Natürlich hatte dies auch seine Vorteile und Berechtigung z.B. hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Qualität von Beiträgen. Doch unter dem Strich bewirkt dies eine indirekte Einschränkung wissenschaftlicher Freiheit.
Hinzu kommt die immer weitere Verengung und Ausdifferenzierung der Forschungsfragen. Auch diese hatte ihre Berechtigung, denn sie geht meist einher mit wissenschaftlichem Fortschritt. Doch was dabei vielerorts verloren geht, ist die Bereitschaft und Fähigkeit zu interdisziplinärer Zusammenarbeit. Diese ist aber zur Bewältigung der grossen Fragestellungen unserer Zeit unbedingt von Nöten. Ich glaube, dass die besten Ideen und Lösungsansätze für unsere Gesellschaft und Unternehmen aus dem konstruktiven Dialog, im dynamischen Austausch disziplinärer Sichtweisen hervorgehen.
Beides zusammen verweist auf die Frage: Wie findet man hier jeweils die richtige Balance? Zu unreflektiert werden hier oft Entweder-oder-Positionen eingenommen, anstatt auf ein ausgewogenes Sowohl-als-auch hinzuarbeiten, was auch Respekt für beide Wege abverlangt.