Unser Jahresthema

Re-interpreting Freedom

Freiheit neu bestimmen – Die Aufgabe unserer Zeit

Freiheit ist der Leitbegriff westlicher Moderne. Diese Moderne steht abermals an einem entscheidenden Kipppunkt. Welche Konsequenzen hat das für den Freiheitsbegriff selbst? Welche sollte es haben?

Unter dieser Fragestellung kommen im neu gegründeten St. Gallen Collegium der Universität St. Gallen führende Forscher:innen verschiedenster Disziplinen zusammen, um sich gemeinsam an einer tragfähigen Neufassung des Freiheitsbegriffs zu versuchen. Sie stellen sich damit einer der wesentlichen Denkaufgaben unserer Gegenwart.

Diese Gegenwart der 2020er Jahre ist weniger von dem Bewusstsein eines notwendigen Umbruchs als vielmehr dem eines drohenden Abbruchs geprägt. Vormalige Leitnarrative und -normen haben ihre orientierende Kraft offenbar eingebüßt. Und dies in politischer wie ökonomischer, ökologischer sowie nicht zuletzt anthropologischer Hinsicht. Mit direkten Auswirkungen auf Bedeutung und Wichtigkeit des Freiheitsbegriffes als Kern unseren kulturellen Selbstverständnisses. Darauf gilt es zu reagieren.

Aus politischer Sicht zeigt sich dieses Abbruchsbewusstsein in der fortschreitenden Aushöhlung liberaler Demokratien sowie der Tatsache, dass das Narrativ eines absehbar Siegeszugs dieses Herrschaftsmodells seine Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Die innere, institutionelle Schwächung geht mit dem Verlust eines global verbindlichen, normativen Anspruchs einher. Derzeit führt dies in eine Dynamik systemgefährdender Destabilisierung, in deren Verlauf auch ein einstmals leitendes, aufklärerisches Verständnis von individueller Freiheit als mündiger Autonomie unter neuen Rechtfertigungsdruck gerät.

Aus technologischer Sicht zeigt sich das gegenwärtige Abbruchsbewusstsein vorrangig in dem Aufkommen einer neuen Technologie, die es in menschheitsgeschichtlich einzigartiger Weise vermag, sämtliche, einst exklusiv dem Menschen zugesprochene Kompetenzen regelgeleiteten Symbolhandelns bis zur Ununterscheidbarkeit zu simulieren – in vielen Bereichen gar funktional zu übertreffen Mit dem Sprung der unter dem Begriff KI (Künstliche Intelligenz) gefassten Large Language Models treten mit anderen Worten Akteure in den Prozess der Zivilisation ein, denen das Potential eignet, das gesamte Feld unseres kulturellen Daseins neu zu ordnen und potenziell zu revolutionieren. Sofern das Signum mündiger Autonomie insbesondere in der Fähigkeit zu eigenständigem, regelgeleiteten Symbolhandeln (Sprechen, Rechnen, Schöpfen) bestand, sind im Zuge dieser Disruption erhebliche Auswirkungen auf das moderne Verständnis von Selbstbestimmung, Selbstschöpfung und also Freiheit zu erwarten.

Aus ökonomisch-ökologischer Sicht zeigt sich das gegenwärtige Abbruchbewusstsein in dem Eingeständnis einer umfassenden Lösungsperplexität. Existiert derzeit doch kein gangbares Szenario, die global bestimmend gewordenen Weisen unseres Wirtschaftens und Ressourcenverbrauchs mit wissenschaftlich etablierten, ökologischen Notwendigkeiten zu vermitteln. Insbesondere nicht mit Blick auf die menschengewirkte Veränderung klimatischer Bedingungen sowie kritisch schwindender Artenvielfalt. Diese Perplexität trifft liberale Demokratien wie Autokratien gleichermaßen. So ist nicht zu sehen, wie es in absehbarer Zukunft gelingen mag, eben jene Maßnahmen demokratisch zu legitimieren, die nach bester wissenschaftlicher Expertise schlichte ökologische Notwendigkeiten eines zukünftigen, würdigen Überlebens für 10 Milliarden auf diesem Planeten Menschen darstellen. Im Zentrum dieser Fraglichkeit steht der Freiheitsbegriff – insbesondere in seinen Aspekten individualisierter Entscheidungs- und also Konsumfreiheit.

Wie sähe ein tragfähiges Verständnis von Freiheit aus, das auf diese neue Konstellation geistesgegenwärtig einginge, ohne dabei den modernen Kern von individualisierter Mündigkeit aufzugeben oder signifikant einzuschränken? Das ist die Leitfrage, unter welcher der erste Fellow-Jahrgang des St. Gallen Collegiums im Herbst 2025 zusammentritt. Mit hoffentlich offenem, ja öffnendem Ausgang.

Was bedeutet Freiheit für Sie?

Freiheit ist ein Begriff, der viele Deutungen kennt. Im Rahmen unseres Jahresthemas Re-interpreting Freedom haben wir Mitglieder unseres Beirats, künftige Fellows und Freund:innen des Collegiums gebeten, ihre eigene Sicht auf Freiheit zu teilen. Ihre Antworten eröffnen unterschiedliche Perspektiven auf eine der zentralen Fragen unserer Zeit. Hier finden Sie die ersten Fragebögen mit den Antworten von Günter Müller-Stewens, Antoinette Weibel und Roger de Weck.

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